Deutsche Weihnachtslieder
3. Buch

Die Chriftnacht in Bethlehem

Die ihr ganzes Leben lang
Nimmer sich verstanden,
Weil im Osten der entsprang,
Der in Abendlanden;

Die von Jahr zu Jahr entzweit,
Feinde neben Feinden,
Nur gelebt in Zank und Streit,
Christliche Gemeinden;

Die im Tode selber noch
Sich verstreut, die Herde,
Weil für sich ein Jeder doch
Nur geweiht die Erde.

Sieh, in einer einzgen Nacht
Die so unterschiedlich
Sind in Zung und Brauch und Tracht,
Leben sie wie friedlich!

Sieh, an einem einzgen Ort
Von den Lippen allen
Hörest du das gleiche Wort
Unentzweit erschallen,

Wo vor manchem, manchem Tag
Nur Ein Wort den beiden
Auf entzückter Zunge lag,
Juden und den Heiden.

Und die gleiche Nacht ists auch
Wo, der Alles waltet,
Nach der armen Menschheit Brauch
Sich als Mensch gestaltet.

Wo der alle Welt erschuf
Nach den Schwerverirrten
Ging und alle mit dem Ruf
Sammelte des Hirten.

Darum mag ein einger Sang
Und doch tausendtönig
Preisen diese Nacht entlang
Aller Völker König.

Darum mag zur selben Stund
Und zur selben Stätte
Einen sich zu neuem Bund
Die zersprengte Kette:

Kette, die von Land zu Land
Und von Meer zum Meere
Über alle Welt gespannt
Trug des Weltalls Schwere;

Die dem Herrn in Handen ruht
Mit dem letzten Gliede,
Ihm, der ist das beste Gut
Und der stillste Friede.

W. Wackernagel